Kommentar zum Urteil des OVG Lüneburg gegen die Stadt Braunschweig
Am 15.12.2016 urteilte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg, dass der neue Bebauungsplan für das umstrittene Nuklearfirmen-Gelände („Buchler-Gelände“) in Braunschweigs Norden ungültig sei. Eckert & Ziegler erreicht sein Ziel der großflächigen Erweiterung des Umgangs mit radioaktiven Substanzen neben Schulen, Wohnhäusern und Kindergärten. Davor hatte der neue Bebauungsplan die BürgerInnen Braunschweigs schützen sollen. Damit beginnt ein neues Kapitel in einer endlosen Geschichte, die offensichtlich nur eines offenbart: visionslose, lediglich reagierende Stadtplanung bei gleichzeitiger Dreistigkeit der beteiligten Unternehmen.
Das Gericht bemängelte in der öffentlichen Verhandlung unter anderem Punkte des Bebauungsplanes, die bereits die BISS als unzureichend kritisiert hatte. Unsere Argumente hatte die Stadt damals beiseite gewischt, wie sie es auch in anderen Aspekten zum selben Thema immer wieder unter Hinweis auf das Erfordernis der Rechtssicherheit tat. Dass diese Rechtssicherheit offenkundig trotzdem nicht gegeben ist, wurde heute bewiesen – davor gewarnt haben BISS-Mitglieder schon seit Jahren, gehört wurden sie nicht.
Ergebnis stand offenbar im Vorfeld fest
Aber auch und vor allem das Verhalten des Gerichts, insbesondere des vorsitzenden Richters, hinterließ einen schalen Beigeschmack. Oder was würden Sie denken, wenn Sie seit Jahren darauf hinweisen, dass die Wohnbebauung nicht „herangerückt“ ist, sondern in wesentlichen Teilen bereits vor den Firmen da war – und wenn sie dann im Vorfeld zur Verhandlung im Geschäftsbericht des OVG (2015) lesen, „[d]as Betriebsgelände liegt in der Nähe von herangerückter Wohnbebauung. Deren Bewohner sowie eine Bürgerinitiative und eine Ratsfraktion drängen die Stadt Braunschweig, den Konflikt durch Auslagerung des Betriebs der Antragstellerinnen zu lösen“? Darin liegt bereits ein sachlicher Fehler und zudem die Verharmlosung möglicher Gegenargumente als zu einer BI oder einer (einzigen) Ratsfraktion gehörig; die Tausende von Demonstranten, die seinerzeit das Firmengelände umringten, und die vielen Hunderte von Menschen, die Einwendungen gegen den Bebauungsplan einreichten, werden hier bereits im Vorfeld ignoriert.
Gutachter zum Thema Risiko nicht gehört
Dem entspricht auch das nächste Zitat aus besagtem Geschäftsbericht: „Sie [Eckert & Ziegler, Anm. BISS] sehen ihre berechtigten wirtschaftlichen Interessen ohne zureichenden Grund eingeschränkt; namentlich Schutzinteressen der benachbarten Wohnbevölkerung rechtfertigten so weitgehende Einschränkungen nicht.“ Als gäbe es das Restrisikogutachten nicht, das sehr wohl reale Gefährdungen sieht und die radiologischen Risiken für Anwohner der Betriebe als höher einstuft als die radiologischen Risiken für Anwohner eines Atomkraftwerks! Ganz abgesehen von der rücksichtslosen Art, mit der hier offenbar die Firma ihre Interessen durchzusetzen versucht: Angesichts eines solchen Zitates war es fast schon folgerichtig, dass der Richter sich weigerte, den Gutachter zu hören, der das „Restrisiko“ für die AnwohnerInnen ermittelt hatte (das Gericht müsse nicht mehr wissen als die Mitglieder des Braunschweiger Rates, und da das Gutachten seinerzeit im Rat nicht durch den Gutachter erläutert worden sei, brauche man ihn auch im Gericht nicht anzuhören).
Keine Abwägung von Gesundheitsrisiken
Der Eindruck, dass es hier in keiner Weise um die Menschen in den betroffenen Stadtgebieten geht, ja der unterschwellige Verdacht, dass das Gutachten nicht einmal in Gänze zur Kenntnis genommen worden ist, wurde empfindlich verstärkt, als der Richter lächelnd fragte, Sievers, das sei doch ein Wissenschaftler oder so. Gemeint war hier Sievert, also die Maßeinheit z.B. für die Organdosisleistung, mit anderen Worten: die biologische Wirksamkeit radioaktiver Stoffe. Für einen Richter, der sich an dieser Stelle anmaßte, für die Anwesenden zu erklären, was Sievert, Millisievert und Mikrosievert seien, ist das entweder ein extrem schwaches Bild oder ein sehr deutliches, nämlich das, dass man es offensichtlich nicht für nötig hält, den Zuhörern beim für sie relevanten Thema (ionisierende Strahlung) korrekte Informationen zukommen zu lassen oder auch nur grundlegende Begriffe sachlich richtig wiederzugeben. Denn dem Gericht ging es offensichtlich nicht um die Themen Risiko und Gesundheitsvorsorge.
Das Verwaltungsgericht soll Unternehmen vor der Willkür staatlicher Eingriffe schützen. Das ist nachvollziehbar. Aber welches Gericht schützt die unbeteiligten Dritten vor der Willkür der Unternehmen (und zuvor der Stadt, des Gewerbeaufsichtsamtes mit seinen horrend hohen Genehmigungen und des Umweltministeriums)? Wie können wir, wenn die Revision nicht zugelassen wird, angesichts von Genehmigungen, die die 300fache Aktivität des havarierten Atommülllagers ASSE II zulassen und die es erlauben, radioaktives Jod-131 und weitere Nuklide in extremen Konzentrationen über die Abluftanlage in die Umwelt zu entlassen, wie können wir also angesichts all dessen unser Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit geltend machen, das uns das Grundgesetz in Art 2 garantiert?
Ein einzelnes Gericht bestimmt die Zukunft Braunschweigs
Der gesamte Duktus der Verhandlung war derjenige eines Straftribunals, das gelegentlich unterbrochen wurde von pseudo-väterlichen oder oberlehrerhaften Äußerungen wie (aus der Erinnerung) dieser: „Ob das so klug war, den Gieselweg nicht in Richtung Autobahn auszubauen, darüber sprechen wir noch“, oder der von einer eine Balkenwaage nachahmenden Geste begleitete Satz (wieder sinngemäß) „Herr Dr. Schiller [Anwalt der Stadt Braunschweig, Anm. BISS], da muss man eben abwägen. Hier nochmal für die Presse: Abwägen!“ Wieder die Geste der unterschiedlich hohen Arme. Glücklicherweise blieb die Presse professionell unbewegt.
Von Anfang an drängte sich der Eindruck auf, der Richter habe Freude daran, sein offensichtlich vorgefasstes Urteil zu verdeutlichen, indem er einen Kritikpunkt nach dem anderen aufbot – auch Kritikpunkte, die den Standards in Braunschweiger Bebauungsplänen entsprechen, also nicht zu kritisieren sind, z.B. bei der Begrünung. Hier maßte sich ein Gericht an, eine Stadt in ihrer Gesamtheit ans Gängelband zu nehmen.
Kommune darf strahlende Betriebe nicht einschränken
Interessanter Weise benannte der Richter den Punkt, man habe das Risiko durch Flugzeugabsturz nicht quantifiziert. Diese Betrachtung hatte auch die BISS gefordert, aber die Stadt hat sie ignoriert. Eine Quantifizierung hätte eine genaue Kenntnis des Inventars vorausgesetzt – daran hat sich die Stadt von Anfang an nicht gewagt.
Dafür ließ der Richter eminent wichtige Punkte außer Acht, beispielsweise die Schulen („Man könnte doch die Harxbütteler Straße entlasten, indem man den Gieselweg öffnet; da gibt es doch eine Brücke am Heideblick“: Da steht das Schulzentrum!). Er zweifelte schließlich sogar an, dass es ein Restrisiko gäbe, das nicht durch die Strahlenschutzverordnung gedeckt sei: Die Kommune dürfe hier nicht baurechtlich tätig werden. Ein Widerspruch zum seinerzeit durch die BISS vorgelegten Rechtsgutachten.
Es stellt sich die simple Frage: Wieso kann ein Richter an einem Oberverwaltungsgericht das Minimierungsgebot mit Verweis auf die Strahlenschutzverordnung (aus der es stammt) mir nichts, dir nichts aushebeln und anschließend die Revision am Bundesverwaltungsgericht verwehren?
Die Arroganz, mit der Wirtschaftlichkeit einfach so und unbegründet über menschliche Interessen, über begründete gesundheitliche Sorge gesetzt wird, entspricht dabei offenbar der Gangart, die man in Atomfragen von diesem Gericht gewohnt ist. Warum die Stadt hier keinen Antrag auf Unterbrechung der Sitzung wegen offensichtlicher Befangenheit gestellt hat, bleibt fraglich.
Gretchenfragen
Allerdings hat auch Braunschweig bislang immer in erster Linie wirtschaftlich argumentiert. Auch Braunschweig versucht, die Thematik kleinzureden, indem man sie zum Problem eines kleinen Stadtteils im Norden stilisiert. Wohin will die Stadt sich jetzt wenden? Kommen nun endlich auch alte blinde Flecken auf den Verhandlungstisch, damit man eine klare Linie findet, statt schon beim Aufstellungsbeschluss schwammig zu formulieren, weil sonst nicht alle mitziehen? Genau diese Unschärfe ist Braunschweig jetzt auf die Füße gefallen.
Immerhin hat sich die Stadt diesmal erkennbar besser geschlagen als beim Prozess vor dem Braunschweiger Verwaltungsgericht, bei dem viele Beobachter den Eindruck hatten, er sei absichtlich verloren worden; damals hatte der Richter mehrfach das Stichwort „Radioaktivität“ ins Spiel gebracht, das das tatsächliche Problem hätte klarer hervortreten lassen, aber die Stadt nahm diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht auf. Auch wenn die Stadt erneut praktisch keine der offensichtlichen Fehlinformationen berichtigte: Der schlafende Braunschweiger Löwe hat einmal kurz geblinzelt. Aber man hat ihn niedergeschlagen. Jetzt ist die Frage: Wird er aufwachen und brüllen?
Die BISS wird ihre Stadt mit Argumenten und Sachkunde in diesem sehr komplexen Bereich gern unterstützen. Es geht um die Zukunft der Stadt. Aber es geht auch noch um viel mehr: Sind durch Präzedenzwirkung jetzt überall Atomanlagen neben Schulen und Wohnhäusern erlaubt? Hat nach diesem Urteil keine Kommune mehr die Möglichkeit, Betriebe, die unter die Strahlenschutzverordnung fallen, auf ihrem Stadtgebiet nicht zu dulden? Und: In welche Richtung steuert ein Land, das so offensichtlich Menschenleben wirtschaftlichen Interessen unterordnet?
Kritik unerwünscht
Der Richter hat schnell gesprochen, sehr schnell. Und kaum verständlich. Es schien, als wolle er gar nicht verstanden werden, sondern nur den Pflichtteil abarbeiten, um dann den BISS-Zuhörern zu signalisieren, das Urteil würde am späten Nachmittag gefällt. Der Artikel auf dem Online-Portal der Braunschweiger Zeitung war aber schon am Mittag zu lesen – rund eine Stunde, nachdem wir abgefahren waren.
Der Richter wirkte überraschend schnell echauffiert, als der zweite leise, höfliche, aber einen sachlichen Fehler korrigierende Einwurf aus dem Publikum ihn erreichte; er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: „Dies ist keine öffentliche Verhandlung in dem Sinne, dass sich hier jeder beteiligen darf!“ – Offensichtlich nicht. Aber sonst hätte man gemerkt, wie viel hier im Argen liegt.
Aus Laiensicht gibt es mehr als einen Formfehler, der hier beklagt werden kann. Wir hoffen, Braunschweig nutzt diesmal seine Chance. Notfalls über einen zusätzlichen Anwalt, der wohlgeordnet starke Argumente vorbringt. Nur so können Halbwahrheiten entlarvt werden, nur so kann bekannt werden: Die Wohnbebauung war in wesentlichen Teilen vor den Firmen da. Im alten Bebauungsplan findet sich keine Autobahnauffahrt am Gieselweg. Eckert & Ziegler sind nicht seit 40 Jahren vor Ort, sie sind Rechtsnachfolger seit 2009.
Braunschweig muss sich wehren
Ein radiologisches Risiko, das für Anwohner der Thuner Betriebe als höher einzuschätzen ist als das radiologische Risiko eines Anwohners eines AKWs, ist sehr wohl ein Grund für eine Kommune, sich schützend vor ihre Bürger zu stellen. Mit guten Anwälten, guten Gründen und endlich auch einer Vision für die Stadt.
Sonst tanzen ihr die Geister, die sie rief, auf der Nase herum: Jahrzehntelang hatte man die Firmen am Gieselweg gehätschelt, man hat nicht so genau hingesehen, man kannte sich. Aber die Laus im Pelz von 2009, die war die Nummer größer. Eckert & Ziegler hat enorm hohe Genehmigungen, gegenüber denen sich die Genehmigungen des Nachbarbetriebes GE Healthcare / Buchler verschwindend gering ausnehmen.
Was ist mit dem interkommunalen Gewerbegebiet, das genau die passende Größe hat für die von der Bundesregierung geplante Fläche zur Lagerung von Gebinden, die für Schacht Konrad gedacht sind? Wird das hier auch wieder ein Satz, bei dem man später sagen wird „Wir haben davor gewarnt“? Bislang verhallen unsere Warnungen völlig. Wie beim Bebauungsplan.
Machen wir – Braunschweig! – sowas bitte nicht nochmal. Bringen wir jetzt die entscheidenden Argumente auf den Tisch! Manche Gerichte bleiben sonst aus Wirtschaftsgläubigkeit auf dem Auge der Daseinsvorsorge blind.