– Offener Brief –
BISS kritisiert OVG-Urteil: Gesprächsangebot an die Stadt
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg schlug Wellen: Der neue Bebauungsplan für das umstrittene Nukleargelände im Braunschweiger Norden wurde ohne die Möglichkeit der Revision für ungültig erklärt. Damit stehen den Atomfirmen am Standort wieder alle Erweiterungsmöglichkeiten des alten Bebauungsplanes offen. Gesundheitliche Risiken der Bevölkerung wurden dabei als den Interessen der Firmen gegenüber irrelevant eingestuft. Stadtbaurat Leuer kündigte an zu prüfen, ob die beanstandeten Punkte im Einzelnen einer Heilung zugeführt werden und ob Rechtsmittel eingelegt werden können.
Die Bürgerinitiative Strahlenschutz (BISS) sieht sachliche Fehler in der Verhandlung und fordert deshalb die Stadt Braunschweig auf, alle rechtlichen und sonstigen Möglichkeiten
auszuschöpfen. Jetzt seien konkrete Pläne für den Stadtbezirk nötig, an der sich ein klarer Aufstellungsbeschluss und ein neuer Bebauungsplan orientieren können. Peter Meyer (BISS) stellt klar: „Wir bieten der Stadt Braunschweig nach wie vor an, sie mit dem Sachverstand unserer fachlichen und juristischen BeraterInnen zu unterstützen, um gemeinsam die Interessen der Stadt und ihrer Einwohnerschaft zu wahren – jetzt erst recht.“
Restrisiko quantifizieren / Inventar offenlegen
Die BISS sieht einen ersten Ansatzpunkt darin, die vom Gericht geforderte Quantifizierung des Restrisikos vorzunehmen, wenngleich sie das Risiko als in jedem Fall und ohne weitere Prüfung absehbar unverantwortlich hoch einschätzt. Insbesondere für die Bewertung eines möglichen Flugzeugabsturzes seien hier allerdings die konkreten Umstände vor Ort maßgeblich.
Meyer: „Eine solche Untersuchung muss zwingend Flugzeuge von mindestens der Airbus A320-Klasse in Betracht ziehen. Auch die Gefährdung durch Terroranschläge gehört in diese Überlegung hinein. Dafür ist es unerlässlich, den Status Quo des Inventars zu berücksichtigen. Gemeinsam mit dem Land oder anderen Institutionen könnte es nun möglich sein, diese Informationen zu bekommen, die die BISS seit Jahren fordert und auf die die Anwohnerschaft zur realistischen Einschätzung der Sachlage ein Anrecht hat.“
Stadtplanung vor Gericht?
In den Augen der Bürgerinitiative hat der Richter seine Aufgabe als Verwaltungsrichter (über-)strapaziert, indem er beispielsweise stadtplanerische Vorgaben durchspielte (wie Verkehr vom Wohngebiet ferngehalten werden könne, während Braunschweig Verkehrslärm des Gieselwegs vom neuen Baugebiet Wenden-West fernhalten wollte).
Weiterhin wurden fälschlicher Weise Autobahnabfahrten in den alten B-Plan TH18
hineininterpretiert, wo sich tatsächlich lediglich eine Sackgasse auf dem Gieselweg befindet. Zudem habe der Richter fehlerhafte Schlüsse bezüglich der Einschränkungen gezogen: Er sagte, nach dem neuen B-Plan müssten vom Besitzer grüne Einfriedungen erstellt werden, die seine Baumaßnahmen einschränkten, und so etwas habe es doch sonst nie gegeben; dies sei eine erhebliche Einschränkung. Tatsächlich ist dies in Braunschweiger Bebauungsplänen gang und gäbe.
Meyer skizziert die offensichtliche Strategie des Richters weiter: „Er ignorierte die Absichten des Flächennutzungsplan aus 1997 mit der Rücknahme des auch im neuen B-Plan aufgehobenen Gewerbegebietes völlig und präsentierte den B-Plan von 2015 als völlig neu und stark reduzierend. Das ist nicht korrekt und ignoriert die langfristige, im Flächennutzungsplan angelegte Stadtplanung.“
Gefahren unterschätzt, Gutachter nicht gehört
Das Gericht habe, so Meyer weiter, das Wissen der Braunschweiger Verwaltung und der
Ausschüsse sowie der dazu gehörenden Fachexperten ignoriert, als es den Gutachter des Öko-Institutes nicht aussagen ließ. Der Richter habe sinngemäß geäußert, dass das Gericht nicht mehr wissen müsse als die Ratsmitglieder, und die hätten damals keine separate Erläuterung des Restrisiko-Gutachtens erhalten.
Meyer: „Den Ratsmitgliedern war aber das Gutachten selbst sehr wohl bekannt. Über die
Mitglieder des Planungs- und Umweltausschusses kannten die Ratsfraktionen auch den Inhalt der mündlichen Erläuterung des Gutachters. Damit muss das Verhalten des Richters als Ignorieren des Gutachtens selbst gedeutet werden. Mit der Frage, was es heißt, wenn im Gutachten steht, das radiologische Risiko eines Anwohners der Braunschweiger Betriebe sei höher als das Risiko eines Anwohners eines Atomkraftwerks – und das im Normalbetrieb! -, wollte er sich offenbar nicht auseinandersetzen.“
Damit nicht genug, habe er offenbar jegliche darüber hinausgehende Gefährdung als bereits durch das Minimierungsgebot abgedeckt betrachtet. Dessen konsequente Anwendung ist jedoch, betont Meyer, in Braunschweigs Norden praktisch nicht erkennbar: „Die Bevölkerung erfährt nicht, was über die Abluft oder andere Pfade in die Umwelt gelangt. Klar ist nur, dass enorm hohe Werte zulässig sind. Und bis zu unseren Protesten konnte es passieren, dass man an der Tankstelle mal eben neben einem Transporter der Nuklearfirmen Strahlenwerten vom ca. 400-fachen der Hintergrundstrahlung ausgesetzt war.“
Dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen keine Gefährdung vorliege, dass also jede Strahlung potentiell gefährlich ist, davon war zwar die Rede – aber erstaunlicherweise nur, um der Stadt vorzuwerfen, dass sie durch Einschränkungen im B-Plan das strahlenbedingte Risiko auf null absenken wolle. Selbst ohne jede fachliche Ahnung von Strahlung und Strahlenschutz sollte jedoch jedem unmittelbar klar sein, dass ein Bebauungsplan, der lediglich eine weitere Zunahme der Strahlenbelastung und nuklearer Risiken verhindern soll und den Bestand mit zum Teil grenzwertig hohen Belastungen unangetastet lässt, keinesfalls eine Reduzierung auf null bezweckt. Genau diese gravierende Fehlannahme, scheint nach dem Verlauf der Verhandlung jedoch für das Urteil zentral zu sein.
Gravierende Fehleinschätzungen: Revision gefordert
Als besonders gravierend empfindet die Bürgerinitiative auch die Tatsache, dass der Richter zu dem Schluss kam, das Minimierungsgebot sei bereits durch die Einhaltung der
Strahlenschutzverordnung berücksichtigt und die Kommune dürfe hier nicht bauplanerisch tätig werden. Meyer: „Die in unseren Augen unzutreffende Interpretation – um nicht zu sagen: die offensichtlich fehlerhafte Abwägung – des Gerichts heißt doch im Klartext nichts anderes als: Kommunen, die in der Vergangenheit nicht bemerkt haben, wie gefährlich ansässige Nuklearbetriebe sind, haben hinterher keine Möglichkeiten mehr, wenigstens eine Verschärfung dieses unerwünschten Zustandes zu verhindern. Das gibt Firmen mit europa- bzw. weltweiten Erweiterungsabsichten die Möglichkeit, sich ganze Stadtteile einzuverleiben.“
Nach heutigem Wissensstand sind Standorte im Stadtbereich oder in Ballungszentren für
Nuklearbetriebe ungeeignet. Dementsprechend äußerte der Niedersächsische Umweltminister, Stefan Wenzel, heute würde so etwas niemand mehr genehmigen. Hier müssen den Genehmigungsbehörden gravierende Fehler vorgeworfen werden, vergleichbar dem Fall Ritterhude. Es wurde versäumt, durch „Einfrieren“ der Genehmigungen den Standort in seinem Gefahrenpotential rechtzeitig zu begrenzen. Warum lässt man zu, fragt die Bürgerinitiative, dass dieser historisch gewachsene Missstand nun noch weiter ausgebaut wird, statt endlich die einzig
richtige Konsequenz eines Neustarts an geeigneter Stelle umzusetzen?
Zudem habe der Richter die Zugeständnisse der Stadt an die Firmen, die die BISS als zu
weitreichend beklagt hat, als praktisch nicht vorhanden abqualifiziert. Der neue B-Plan habe aber, so Meyer, sehr wohl erhebliche bauliche Erweiterungsmöglichkeiten im Bestand geboten. Den weiteren Kritikpunkt des Richters, die einschränkenden Regeln seien nicht eindeutig genug formuliert, sodass bei jeder Änderung auf dem Firmengelände Diskussionen und interpretierbare Entscheidungen zu erwarten seien, teilt die BISS zwar, sie betrachtet dies aber als einen zu heilenden Makel. Der Richter sah dies augenscheinlich anders.
Die Bürgerinitiative sieht beim Verbot bauplanerischen Handelns der Kommune einen
Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Meyer: „Die BISS hat hierzu seinerzeit ein Rechtsgutachten der renommierten Verwaltungsrechtlerin Franziska Heß (Anwaltskanzlei Baumann Rechtsanwälte) vorgelegt, das ganz klar nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung der Stadt, in einem solchen Fall zu handeln, bezeugt. Die Kommunalaufsicht teilte diese Auffassung explizit. Für uns bleibt nur die Schlussfolgerung: Wer entgegen dem Tenor der Rechtsprechung der nächsthöheren Instanz entscheidet, kann wohl kaum die Anrufung dieser höheren Instanz verweigern.“
Die BISS hält es für denkbar, dass genau deshalb die Revision per Nichtzulassungsbeschwerde erzwungen werden kann. Sie fordert nun das Erstreiten dieser Möglichkeit.
Handlungsoptionen
Viele der genannten Aspekte hatten Bürgerinnen und Bürger Braunschweigs bereits bei ihren Einwendungen zum neuen B-Plan formuliert. Meyer zieht die Konsequenz: „Jetzt wäre es wichtig, dass die Stadt Braunschweig eine konkrete Vorstellung für den Norden der Stadt entwickelt, an der sich ein B-Plan orientieren kann, und dann klar Stellung bezieht. Wir sind bereit, uns bei der Entwicklung des Ideenpools zu beteiligen. Der Aufstellungsbeschluss muss ein nachvollziehbares Ziel für den B-Plan formulieren. Das ist jetzt Hausaufgabe.“
Sehr kurzfristig und sorgfältig sollte geprüft werden, ob der alte, nun wieder auflebende
Bebauungsplan in Bezug auf zu genehmigende Hochrisikobetriebe nicht noch schlechter ist als die Anwendung des allgemeinen Baurechts. In diesem Fall fordert die BISS die schnellstmögliche Aufhebung des nun wieder auflebenden B-Plans.
Die BISS hofft, dass die Stadt Braunschweig nun bereit ist, ihre Position in Bezug auf die
Erstellung detaillierter Risikoanalysen, der Aufhebung des alten B-Plans und der Bestrebungen des Widerrufs der horrenden Umgangsgenehmigungen für die Bearbeitung radioaktiver Substanzen neu zu überdenken. Meyer: „Wir hoffen, dass das zumindest vorläufige Scheitern der sehr auf Ausgleich bedachten Strategie der Stadt nun zu einer klaren Positionierung der Stadt für die Sicherheit der Bürger führt. Der Versuch, dem Nuklearbetrieb weit entgegen zu kommen und im Gegenzug auf dessen Kompromissbereitschaft zu hoffen, ist grandios gescheitert. Es wird Zeit,
die Samthandschuhe auszuziehen.“
Mit der Nichtzulassung einer Revision wird der Antrag einiger AnwohnerInnen auf Widerruf der Umgangsgenehmigungen der Nuklearfirmen am Standort neben Wohnhäusern und Schulen immer wichtiger. Sollte dem Antrag nicht entsprochen werden, kommt für die AnwohnerInnen ein Klageverfahren in Betracht. Auch die Stadt ist herzlich eingeladen, dies finanziell und politisch zu unterstützen. Wer dieses Vorhaben unterstützen möchte, kann für den Rechtshilfefonds Strahlenschutz spenden.
BISS e.V.