Hallo – wach!?!

Eule

Fünf Jahre BISS, die Erste: Von Menschen

5 Jahre lang ist es der Bürgerinitiative Strahlenschutz bisher gelungen, den Bau der geplanten Atomhalle neben Schulen und Wohnhäusern zu verhindern. Nun, da die Politik vor offensichtlich illegal erworbenem Bestandsschutz endgültig die Waffen streckt (fehlende UVP, aber „die will doch keiner vor der Haustür“ – nein, eben!), wo die Justiz offensichtlich bestehende Risiken ignoriert und von den vielen großen Projekten die Konzentration auf eines bleibt, nämlich auf die Klage gegen die Genehmigungen am Standort, bleibt Zeit, persönliche Eindrücke zu sortieren und fruchtbar zu machen. Braunschweig(-Thune) ist nämlich symptomatisch für eine größere Entwicklung, deshalb können vielleicht andere von unseren Erfahrungen profitieren und anderswo Gutes damit tun. 

Eure Eule hatte in Braunschweig gerade ihr Nest gebaut, als bekannt wurde: Nebenan, auf dem Weg zur Arbeit, soll Asse-Lauge bearbeitet werden! Heute wissen wir: Das war nur die Spitze des Eisbergs. Und es war bei weitem nicht die gefährlichste Substanz auf dem Gelände. Damals aber brach für mich praktisch alles weg, was ich in einer zivilisierten Stadt für selbstverständlich gehalten hatte.

Alle wichtigen Nachrichten über das Thuner Gelände, von dem heute selbst der Umweltminister sagt, es wäre nicht mehr genehmigungsfähig (wieso steht es dann eigentlich noch?), kamen nicht etwa von offiziellen Stellen. Sie kamen von mutigen Einzelpersonen, denen ihr persönlicher Ruf weniger wichtig war als die Wahrheit und die Sicherheit ihrer Mitmenschen. Ja, solche Leute gibt es. Gott sei Dank.

Interessanter Weise bin ich später von Mitgliedern mehrerer Parteien auf „meine Nähe“ zu „solchen Kreisen“ hingewiesen worden, mit dem Verweis darauf, dass es meinem Ruf besser täte, mich hier nicht weiter zu engagieren. Aber mein Ruf ist mir nicht wichtig, die weitgehende Kohärenz meiner Werte und meines Handelns hingegen schon. Das ist etwas, das sich durch die unfreiwilligen Kämpfe der letzten Jahre hindurch gerettet hat: Die Ehrlichkeit mir selbst und anderen gegenüber. Und der Respekt vor den mutigen Warnern. Wenn die Bitterkeit über das Verhalten anderer sich zurückzieht, wächst man daran. Zumal dann, wenn man gleichzeitig feststellen darf: Plötzlich kommt von allen Seiten Unterstützung, es gibt viele Initiativen gerade in unserer Region, für die Solidarität kein leerer oder parteipolitisch gefärbter Begriff ist.

Als zum ersten Mal während einer Ratssitzung „unser“ Thema zur Sprache kam, dachte ich noch: Das wird ein Selbstläufer; alles andere wäre ein Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand. Sicher wusste einfach niemand Bescheid. Erst langsam begriff ich, warum uns im Gegenteil blanke Ignoranz oder verbale Angriffe entgegenschlugen. Die verfestigten Schubladen in den Köpfen („Öko-Spinner“ versus „verknöcherte Konservative“ versus „verschlafene Sozen“, „Bürgerinitiativen bestehen nur aus Chaoten ohne wissenschaftlichen Anspruch“ und so weiter) griffen hier voll. Alter Wein in neuen Schläuchen.

Teils war dies sicher auch einschlägigen Vorerfahrungen geschuldet, das will ich gar nicht leugnen, aber ich hatte davon damals keine Ahnung. Ich zog hierher, wurde taxiert – und abgeschrieben. Selbst von vermeintlichen Freunden, waren diese doch in einer Partei, die offenbar keine Probleme mit Atomanlagen neben Kindern hat, außer vor Wahlen.

Ich war bei Weitem nicht die Einzige, die plötzlich an unerwarteter Stelle neue soziale Bindungen finden musste. Die Alteingesessenen traf es da sogar deutlich mehr. Gerade deshalb fällt mir aber auf: Dieses Schubladendenken, eigentlich ein evolutionäres Instrument zur Denkvereinfachung in Krisensituationen, ist Teil allgemeiner Entwicklungen. Von den Fakten weg hin zu Meinungen: Das sieht man an Pe-, Bra- und sonstigen –gidas ebenso wie daran, dass in Bezug auf TTIP, CETA oder TISA die Bevölkerung als Horde hysterischer Idioten abgestempelt wird. Aber bei diesen Handelsabkommen wie bei der Thuner Gemengelage gilt: Auf Basis erhältlicher Daten sind Betroffene durch die Bank deutlich mehr informiert als der Politiker an sich. Dies gilt in Thune umso mehr, als irgendwann unleugbar klar war: Die BISS hat Fachleute in ihren Reihen, und wo das eigene Wissen und Können nicht ausreicht oder geprüft werden soll, zieht sie Fachleute heran.

Das war vermutlich einer der Gründe, weshalb sämtliche der in der Wirtschaft mittlerweile üblichen, vermutlich im Vorhinein festgelegten Strategien gegen Kritik letztendlich ins Leere liefen: So verletzend es war, von Andreas Eckert persönlich als „Braunschweiger Talibane“ dargestellt zu werden, so wenig gelang es Eckert & Ziegler, die BISS zu diskreditieren. Ebenso wenig genügte die Taktik des Gewerbeaufsichtsamtes: „Lass sie reden, hör sie an, dann sind sie zufrieden“ funktioniert nur bei uninformierten Zuhörern oder als Psychotherapie, aber nicht dort, wo die Arbeit mit radioaktiven Substanzen neben Schulen und Wohnhäusern Faktum ist. Hier muss ein neuer Weg beschritten werden: Derjenige der Umsiedlung der Firmen an einen sichereren Ort.

Fünf Jahre BISS, die Zweite: Von Nebel und Kerzen

Ein großer Bereich dessen, was uns entgegengehalten wurde, bestand nicht etwa aus Gegenargumenten. Stattdessen handelte es sich um eine Art Wortspiel mit Blendeffekt, quasi mit eingebauter Nebelmaschine zum Einlullen der Öffentlichkeit. Beispiel gefällig? Okay: Wenn an einem bestimmten Ort über längere Zeit, jahrelang, Container mit radioaktivem Inhalt abgestellt werden, zum Beispiel um abzuklingen oder weil sie die Zwischenzeit überbrücken müssen, bis sie bearbeitet werden, wie würden Sie diesen Ort dann nennen? Zwischenlager? Weit gefehlt, Sie Lügner(in)! Ein Zwischenlager ist offiziell nämlich nicht einfach ein Lager, in dem radioaktive Stoffe zwischengelagert werden, sondern nur ein Lager, in dem bereits fertig bearbeitete radioaktive Stoffe zwischengelagert werden. Theoretisch ist es möglich, einen Container bis auf die Wischprobe fertig zu bearbeiten und anschließend jahrelang stehen zu lassen. Sie staunen? So ging es uns auch…

Dass Baustoffe radioaktiv sein können, zum Beispiel Granit oder Beton, teils auch Holz aus belasteten Gebieten, ist hinlänglich bekannt. Auch der Eintrag radioaktiver Substanzen über Kunstdünger ist lange schon kein Geheimnis mehr. In der Auseinandersetzung um das Braunschweiger Gelände wurde uns häufig entgegengehalten, die im Stadtgebiet verteilten Schlackesteine (z.B. im Hof der Brunsviga oder in Form diverser Randsteine an Bürgersteigen bzw. Parknischen) seien gefährlicher als das, was von den Firmen ausginge. Es stimmt, dass die Schlackesteine strahlen. Aber das müsste, wenn man Strahlenschutz ernst nimmt und berücksichtigt, dass es keine ungefährliche Strahlung gibt, dazu führen, dass sie entfernt werden (das „geht“ nur nicht, so verlautet es mehr oder weniger inoffiziell, es kostet zuviel). Mit veränderten Erkenntnissen müssen alte Fehler korrigiert werden, und zwar zunächst unabhängig von finanziellen Überlegungen, denn wo ein Wille ist, ist fast immer auch ein Weg – gerade wenn man gemeinsam daran arbeitet. Darin besteht eine deutliche Parallele zum Nukleargelände.

Besonders zynisch finde ich aber, dass der Vergleich der Belastung durch das Nukleargelände mit der Belastung durch Schlackesteine weder auf die Abluft eingeht noch Stör- oder Unfälle berücksichtigt. Für die Abluft existieren enorm hohe Genehmigungen, für manche Nuklide höhere als die von der Strahlenschutzverordnung genannten Höchstwerte. Auf dem Gelände werden regelmäßig Stoffe angeliefert, die mit mehr als 1 000 000 000 000 Becquerel strahlen – kurzfristig, aber es kommt ja immer wieder neues Material an. Und wenn in dieser Zeitspanne ein größerer Brand ausbräche, was wäre dann mit der sogenannten „Niedrigstrahlung“ (auch einem Wort mit Blendeffekt)? Was wäre dann mit den „schwach“ strahlenden Substanzen (Nebelmaschine in Aktion)? Von der auf dem Gelände lagernden havarierten Cäsiumbox, die bislang offenbar nicht einmal von Spezialfirmen vom Gelände verbracht werden konnte, weil sie so stark strahlt, ganz zu schweigen.

Nur wenige Menschen in Stadt und Umland ahnen, dass eine Evakuierung in diesem Fall ziemlich sicher unmöglich wäre. Sie vertrauen darauf, dass die Behörden sie warnen. Dabei ist aber beispielsweise zu bedenken: Schon der meldepflichtige Vorfall mit dem brennenden Fass im Sommer 2016 kam nur deshalb an die Öffentlichkeit, weil die BISS zufällig Unregelmäßigkeiten in ihren Messwerten entdeckt hatte (die allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Vorfall zusammenhingen). Und selbst wenn man auf Alarm vertraut: Rechtzeitig käme er nur dann, wenn der Wind zufällig stabil aus der Gegenrichtung wehte. Bei vorherrschendem Westwind scheint dies für weite Teile Braunschweigs wenig wahrscheinlich.

Ich persönlich jedenfalls ziehe es vor, statt Nebelkerzen Kerzen im Nebel zu verteilen.

Fünf Jahre BISS, die Dritte: Von Spaziergängen

September 2016: Wir stehen mit japanischen Gästen vor dem Nukleargelände. Es ist ein windiger, angenehm frischer Herbsttag. Wir sprechen über die Firmen Buchler, GE Healthcare und Eckert & Ziegler sowie über diverse Vorgängerfirmen. Plötzlich fährt ein Transporter aus dem Tor. Ich weiß, was viele Spaziergänger am Gieselweg nicht wissen: Diese Transporter dürfen so viel Strahlung absondern wie ein Castor-Transporter. Sie sehen nur deutlich normaler aus, diese weißen Sprinter. Wir selbst haben schon an einer Tankstelle ein solches Gefährt mit dem mehr als 400-Fachen der natürlichen Hintergrundstrahlung gemessen.

Zum Glück sind wir diesmal weit genug weg. Dafür staunt einer unserer japanischen Gäste, dem die fortlaufende Freisetzung von Radioaktivität durch das havarierte Kraftwerk in Fukushima sehr präsent ist, angesichts der Transporte und der Genehmigungsgepflogenheiten hier: „In Deutschland? Das ist ja wie in Japan!“ – Womit er natürlich nicht die Größenordnung meinte, sehr wohl aber die Leichtfertigkeit, mit der man hier die Umwelt Gefährdungen durch Radioaktivität aussetzt.

Ich denke sofort: Ja, aber die Medizinprodukte müssen doch transportiert werden… Und dann: Stimmt, das müssen sie – aber hier gefährdet man immer wieder dieselben Menschen, x-mal mehr als an einem einzelnen Empfängerkrankenhaus, weil es nur so wenige Ausfahrtmöglichkeiten gibt. Und weil eine Autobahnanbindung keine Lösung wäre, bliebe in diesem Fall doch die Abluftanlage mit den enorm hohen Erlaubnissen für die Freisetzung von Radionukliden bestehen, nämlich die Abluftanlage, die man von manchen Klassenzimmern des benachbarten Schulzentrums aus quasi auf Augenhöhe sehen kann.

Wir gehen mit unseren Gästen weiter, an der „heißen Zelle“ vorbei. Dort messen wir immer wieder erhöhte Gammastrahlung; ich lasse mir einen unserer Geigerzähler geben und schalte zur Vorsicht um auf „Alpha-Beta-Gamma“, messe also alle Strahlenarten bis auf die besonders gefährliche Neutronenstrahlung, die am Gelände vorhanden, aber komplizierter zu messen ist. 0,2 µSv/h, das ist etwa das 2,5-Fache der natürlichen Hintergrundstrahlung nach Tschernobyl (vorher war sie an vielen Orten geringer).

Ein paar Schritte weiter steigt die Strahlung an. 0,25 µSv/h, 0,3 µSv/h. Dann 0,31 µSv/h. Auf dem Fußweg. Mir platzt der Kragen. Ich habe meine Gründe, als ich der Gruppe die Messwerte mitteile, damit sich jeder an einen sichereren Ort begeben kann. Natürlich sind das keine Werte, von denen man gleich umfällt – das wäre ja auch noch schöner! Aber es ist wissenschaftlicher Konsens, dass jede Strahlung potentiell gefährlich ist, und politischer Konsens (Strahlenschutzverordnung), dass jede vermeidbare Strahlung zu vermeiden ist. Das muss auch in Braunschweig gelten, der Stadt der Ingenieure. Wenn wir hier keine Lösung finden, gibt es vermutlich keine – beziehungsweise nur die eine: Umsiedlung der Firmen.

Zuhause stehe ich in meinem Garten, und ich erinnere mich unwillkürlich an das brennende Fass radioaktiven Inhalts, das meldepflichtige Ereignis bei Eckert & Ziegler, in diesem Jahr. Wieder einmal frage ich mich, ob wir oder unsere Nachbarn die Früchte unserer Ernte essen können. Kurz wabert durch mein Bewusstsein, was die Befürworter der Atomfirmen neben Familien immer sagen: Die Angst ist viel gefährlicher als Radioaktivität… Aber ich habe keine Angst mehr. Ich bin auch nicht mehr wütend. Was ich fühle, ist Mitleid: Mitleid mit denjenigen, die in der Politik nicht nur ihre Lieblingsthemen bearbeiten müssen, sondern viel zu vieles, das zu lesen oft schon rein zeitlich nicht möglich ist. Mitleid mit denjenigen, die nicht mehr spüren, dass sie sich und andere gefährden. Die nicht herauskommen aus den Zwängen ihrer Parteizugehörigkeit. Und schließlich Mitleid mit der Weltgemeinschaft, die sich so sehr von wirtschaftlichen Schlagwörtern gängeln lässt, dass sie bereit ist, notfalls mit dem Verbraucherschutz auch gleich die Menschlichkeit auf diesem Altar zu opfern.

Es ist zu vermuten, dass CETA mit der zu erwartenden privaten Gerichtsbarkeit die Erweiterung in Braunschweig(-Thune) durchwinken würde. Deshalb bleibt zu hoffen, dass CETA niemals vollständig in Kraft tritt und dass (in dieser Hinsicht) vergleichbare Abkommen nie getroffen werden. Dass das Land Niedersachsen seine Fürsorgepflicht für Braunschweig endlich merkbar erfüllt und es nicht aus Angst vor Konflikten zum Mahnmal rücksichtsloser Habgier verkommen lässt. Dass jemand dem sympathischen Braunschweiger Löwen, der auf den Atomfässern schnarcht und gerade ein Auge geöffnet hat, rechtzeitig laut entgegenruft: Hallo – wach?!

Und es bleibt an der Vision für Braunschweig und die Region festzuhalten: Vielleicht wird es nicht die berühmte „grüne Wiese“ in Thune, weil dort schon zu viel unter der Erde liegt, aber doch eine weitgehende Sanierung und ein Einfrieren dessen, was unumgänglich ist, nachdem die Firmen umgesiedelt wurden.

Es bleibt festzuhalten an der Vision, dass die Mitarbeiterschaft weiter ihre Arbeit machen und ihre Wohnhäuser behalten kann, weil ihr Arbeitsplatz noch gut erreichbar ist. An der Vision, dass man mit Kindern am Gieselweg spazieren gehen und tief einatmen kann. Dass man Biolandwirtschaft betreiben kann (sofern man das denn will), dass man mit Menschen aller Parteien wieder sprechen kann und dass man nicht sehen muss, wie ein Nachbar das Infoblatt lächelnd in die Hand nimmt und dann hinter dem Rücken des Verteilers in den Papierkorb wirft, ohne es überhaupt gelesen zu haben. Es bleibt, was einer unserer japanischen Gäste sagte: „Es ist so schön hier!“ – Und das wird auch so bleiben.

Ein gesegnetes Jahr 2017 wünscht Euch
Eure Eule

[EDIT] Den Beitrag kann man auch online anhören: