Offener Brief an Umweltminister Lies: Es fehlen 99,8 %

– OFFENER BRIEF –

Sehr geehrter Herr Umweltminister,

beiliegend finden Sie den revidierten Stresstest der Bürgerinitiative Strahlenschutz (BISS) für den Braunschweiger Standort der Firma Eckert & Ziegler. Dieser Stresstest zeigt: Bereits die Freisetzung eines Tausendstels des genehmigten Inventars kann dramatische Konsequenzen haben. Damit zeigt der BISS-Stresstest, dass die Gefährdung durch die Nuklearfirma in Braunschweig-Thune real und aktuell ist. Das NMU muss nun auf diese „Gefahr im Verzug“ mit einer sofortigen Rücknahme der Umgangsgenehmigung für Eckert & Ziegler reagieren.

Die unabhängige Expertin Oda Becker hat diesen Stresstest überprüft. Ihre gutachterliche Stellungnahme bestätigt die Korrektheit unserer Berechnungen und zieht das Fazit: „Es ist anhand der Ergebnisse des BISS Stresstests nachzuvollziehen, dass der Bürgerinitiative BISS eine Verlagerung der Anlagen an einen geeigneteren
Standort als die einzig sinnvolle Möglichkeit zur Minderung des Risikos für die Bevölkerung erscheint. Die Ergebnisse der radiologischen Auswirkungen im BISS Stresstest, auch wenn die Freisetzungsmenge nur auf einer Annahme beruht, sollten von der Aufsichtsbehörde umgehend zum Anlass genommen werden, einen anlagenspezifischen Stresstest durchzuführen. Die Ergebnisse sollten von der Aufsichtsbehörde transparent dargestellt werden und ggf. Schritte zum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden.“ 

Wir finden es äußerst befremdlich und nehmen mit großer Sorge wahr, dass die Brisanz des Braunschweiger Nuklearstandortes durch das NMU offensichtlich bislang nicht ernst genommen bzw. zum Teil sogar ignoriert wurde. Das möchten wir an den folgenden Aspekten verdeutlichen:

1.Es ist uns unverständlich, wieso das NMU nicht von sich aus einen Vergleich des Störfalls im November 2017 mit der immer noch in Prüfung befindlichen Störfallanalyse durchgeführt hat und erst durch einen TV-Beitrag auf die Diskrepanz hingewiesen werden musste. Die hierdurch offenbarte, erhebliche Unterschätzung der 1
Radioaktivität in der Störfallanalyse hätte durch das NMU bereits vor Monaten offen gelegt werden können. Eine Neufassung der Störfallanalyse, die auch die weiter unten in Punkt 2 angesprochenen Aspekte berücksichtigt, hätte bereits vor Monaten beauftragt werden können.

2. Die uns aktuell vom NMU zugeschickten Dokumente2 belegen, dass in der Eckert & Ziegler Störfallanalyse 99,8 % der möglichen Radioaktivität nicht berücksichtigt wurde.
Diese 99,8 % werden bei der Störfallanalyse mit dem Hinweis ignoriert, dass sich „ein Großteil der radioaktiven Stoffe in einem besonders gesicherten Bereich und in metallisch umschlossener Form bzw. in zugelassenen Transportbehältern“ befände.3

2.1.Nach unseren Informationen wurden bislang keine spezifische Untersuchungen durchgeführt, die belegen, dass aus diesem „besonders gesicherten“ Bereich niemals(!) Radioaktivität freigesetzt werden kann. Nur dann aber wäre es gerechtfertigt, diese 99,8 % zu ignorieren. Uns beunruhigt hier zum Beispiel,
dass sich offensichtlich oberhalb dieses „besonders gesicherten“ Bereichs, der sogenannten „Heißen Zelle“, laut der öffentlichen Beschlussvorlage 17-04320 der Stadt Braunschweig eine Lichtkuppel befindet.

2.2.Gegen die Annahme dass niemals Radioaktivität freigesetzt werden könne, spricht hingegen, dass die genannten Behälter nur für eine Branddauer von maximal 30 Minuten bei einer maximalen Brandtemperatur von 800 °C ausgelegt und nur begrenzt mechanisch belastbar sind. Auch die bislang durch das NMU offen gelegten Informationen zeigen, dass auch die Störfallanalyse davon ausgeht, dass zumindest
einer dieser vorgeblich so sicheren Behälter durch eine Flugzeug-Triebwerkswelle zerstört werden kann. Da es sich bei der „Heißen Zelle“ um einen relativ kleinen Raum handelt, ist es äußerst wahrscheinlich, dass eine dort einschlagende Triebwerkswelle mehrere oder alle Behälter zerstören würde.

2.3.Darüber hinaus wurde in der Störfallanalyse nicht die mögliche Fremdeinwirkung Dritter oder durch Innentäter betrachtet, obwohl sowohl das GAA als auch Eckert & Ziegler auf die besondere terroristische Gefährdungssituation hinweisen. Warum wurde diese brisante Information den Braunschweiger Ratsmitgliedern im Mai 2017 nicht auch in aller Deutlichkeit so mitgeteilt?

2.4.Weshalb durfte und darf Eckert & Ziegler unwidersprochen behaupten, dass das radioaktive Inventar auf weniger als 0,2 % der tatsächlichen Genehmigung begrenzt sei, während das NMU nicht darlegen kann, wo diese angebliche Inventarbegrenzung in Form einer Genehmigung fixiert ist? Weshalb schickte das NMU im Jahr 2012 diese firmenseitige Behauptung einer Inventarbegrenzung ungeprüft an die bundesdeutsche Entsorgungskommission? Weshalb bezog sich das NMU Ende 2017 mit Bezug
auf den ESK-Stresstest wiederum auf genau diese Information (eine von Eckert & Ziegler behauptete – jedoch unbelegte – Inventarbegrenzung), die immerhin nur dank der Weiterleitung durch das NMU im Stresstest der Entsorgungskommission auftaucht?

2.5.Die Störfallanalyse geht in erster Linie von einer Freisetzung radioaktiven Jods aus. Eine Freisetzung besonders gefährlicher radioaktiver Stoffe wird in der Störfallanalyse offensichtlich ignoriert. Die ESK weist jedoch darauf hin, dass insbesondere eine Freisetzung dieser besonders gefährlichen Nuklide zu betrachten ist und nennt hier Co-60 und Ra-226. Diese beiden Nuklide spielen auch bei Eckert & Ziegler in Braunschweig eine wichtige Rolle.4
Wieso behauptete das NMU am 03.05.2017 trotzdem gegenüber den Braunschweiger Ratsmitgliedern, dass die Störfallanalyse „weitreichender“ sei als der ESK-Stresstest?
Wieso wurde nicht offen gelegt, dass die Störfallanalyse durch zahlreiche Annahmen davon ausgeht, dass insbesondere diese gefährlichen Nuklide angeblich nicht freigesetzt werden können? Hierzu zählt in Braunschweig u.a. auch Americium (Am-241), das laut der Abluftgenehmigung für Eckert & Ziegler eine besondere Bedeutung aufweist und – so können wir anhand der offiziellen Berechnungsvorschriften
zeigen – von dem bereits die Freisetzung geringster Mengen zu einer Überschreitung des Evakuierungsrichtwertes führen würde.
Americium (Am-241) sorgt aktuell in Tschernobyl für eine dramatische Verschärfung der radioaktiven Gefahr für die lokale Bevölkerung.5

Wir fordern Sie daher auf: Setzen Sie durch, dass sich das NMU mit den in der BISS-Stresstest-Betrachtung gezeigten Gefahren ernsthaft auseinander setzt. Es müssen spezifische Untersuchungen folgen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, was in einem „Worst-Case-Szenario“ insbesondere aus der „Heißen Zelle“ aber auch
aus anderen Bereichen (u.a. der unseres Wissens noch auf dem Gelände befindlichen havarierten Cäsium-Produktionsbox) freigesetzt werden kann. Die gravierende Unterschätzung im Fall des Präparatabsturzes zeigt darüber hinaus, dass auch die restlichen Szenarien der Störfallanalyse vollständig überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden müssen.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Thomas Huk Heidrun Krüger Peter Meyer Silvia Sieg
Vorstand der BISS e.V.

1 Panorama 3 berichtete hierüber in einem TV-Beitrag am 18.09.2018. In dem TV-Beitrag bestreitet die Firma, dass es sich bei dem Unfall im November 2017 um einen Störfall gehandelt habe und daher kein Vergleich mit der Störfallanalyse erfolgen müsse. Laut der Firma handelte es sich lediglich um einen„anormalen Betriebszustand“. Diese Behauptung ist nicht nachvollziehbar, da in der Störfallanalyse mit dem Präparateabsturz ein vergleichbares Szenario betrachtet wurde. Der Präparateabsturz in der Störfallanalyse geht sogar von einer deutlich geringeren Radioaktivität
aus als der, die sich im November 2017 in der tatsächlich betroffenen Flüssigkeit befand. Christian Küppers, Mitglied der Strahlenschutzkommission, bezeichnet in dem TV-Bericht die Aussage, dass es sich im November 2017 um einen „anormalen Betriebszustand“ gehandelt habe, entsprechend als „Wortklauberei“.

2 Schreiben von Eckert & Ziegler aus dem August 2012 als Antwort auf die ESK-Frageliste vom 06.06.2012: „…ergibt sich aus den für die Störfallbetrachtung festgelegten maximalen Aktivitätsinventaren.“ Das maximale Aktivitätsinventar wird hier in Anhang 1 als das 1,86E10-fache der Freigrenzen (das entspricht bei einer mittleren FG von 1E5: 1,86E15 Bq) angegeben. Die Genehmigung von Eckert & Ziegler erlaubt jedoch tatsächlich den Umgang mit dem 1010E10-fachen der Freigrenzen (das entspricht bei einer mittleren FG von 1E5: 1010E15 Bq = 1,01E18 Bq).

3 siehe Schreiben des NMU vom 21.11.2017

4 laut Angaben des GAA Braunschweig zur Aktivitätsbilanz der Fa. Eckert & Ziegler Nuclitec GmbH zum 31.12.2011 gehören Co-60 und Ra-226 4
neben Tritium und Plutonium (Pu-238) zu den radioaktiven Stoffen mit der höchsten Aktivität unter den 163 offen gelegten Nukliden.

5 siehe ZDF-Reportage „Super-GAU Tschernobyl“ vom 26-04-2018